Das alte Pädagoge
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Elisabeth Zarow

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Floria                                             - oder meine Philosophie

Die Gespräche:

 

Der 13. Monat

Die vierte Dimension

Von der Zeit, die uns bleibt

Von der Hoffnung

 

 

Der 13. Monat

 

 

Ich saß am Bett meines Sohnes, das warme Licht einer Weihnachtslaterne schimmerte vom Fenster her, auf dem Schoß hielt ich das geschlossene Buch von Momo[1]. Momo hatte mit Hilfe von Kassiopeia die grauen Her­ren vertrieben, die Stunden-Blumen wieder in die Zeit entlassen. Bei den letzten Worten des Buches war mein Sohn eingeschlafen, nur das leise Ticken der Kinderzimmeruhr störte die Ruhe.

Locker lag das Buch auf meinen Knien, als es sich plötzlich, wie von selbst, wieder auf der letzten Seite auf­schlug. Die Zeichnung von Kassiopeia mit den Buchstaben „ENDE“ lag deutlich vor meinen Augen. Verwirrt sah ich nochmals auf das Blatt, hatte Kassiopeia sich eben bewegt, dies war doch unmöglich. War es meine Mü­digkeit, oder spielten mir meine Augen einen Streich? Da war Kassiopeia abgebildet, die gerade noch von Mei­ster Hora einen erholsamen Schlaf gewünscht bekommen hatte. Doch nun bewegte sich Kassiopeia. Und so wie sie sich immer zu verständigen pflegte, so sprach sie auch jetzt mit den Buchstaben auf ihrem Rücken. Ich las die Buchstaben: „KOMM MIT“. Das konnte nicht sein, ich klappte das Buch laut zu. Doch diese Neugierde! Ich musste es wissen, ich warf nochmals auf die letzte Seite einen Blick. Kassiopeia sah mich vorwurfsvoll an: JETZT KOMM ENDLICH.

 

 

Wie, sollte ich gemeint sein?

JA, WEN SOLLTE ICH DENN SONST MEINEN las ich die Antwort in leuchtenden Buchsta­ben, noch bevor ich mir meiner Frage bewusst wurde. Und wenn ich mitkommen sollte, wie sollte das dann funktionieren?

STELL DICH NICHT SO AN, WENN DU DIR MÜHE GIBST, DANN KANNST DU MIR AUCH FOLGEN. Ich sollte mir also nur Mühe geben, dann würde es schon gehen. Doch wie kann man etwas machen, was man nicht versteht? Ich sah auf Kassiopeias Rückenpanzer, das Bild vor meinen Augen war so plastisch, dass ich meinen Zeigefinger ausstreckte und über die Buchseite fühlen wollte. Ich spürte die glatte Maserung der Hornplatten unter meinem Finger, langsam kroch Kassiopeia auf meine Hand, ihr glatter Bauch­panzer schob sich auf meine Handfläche.

SIEHST DU, ICH WUSSTE DOCH, DASS DU DAS KANNST! JETZT KOMM MIT. Und Kassiopeia führte mich, in ihrem gemächlichen, langsamen Schritt, der Zeit und Raum überbrücken kann, mit sich fort. Wir kamen an einer Bretterwand vorbei, in fröhlichen Farben, jeder Buchstabe in einer anderen, stand angeschrieben: Lasst uns die Welt wie die Kinder sehen. Und ich dachte bei mir: lasst uns die Welt wie die Kinder sehen; große Augen entdecken die Wunder dieser Welt, was Erwachsene nicht mehr sehen, Kinder mit den Herzen fühlen.

GEH DURCH DIE TUER, stand auf Kassiopeias Rückenpanzer geschrieben. Ich stand vor der Bretterwand, keine Tür war zu sehen. Und Kassiopeia erklärte mir GEH DURCH DIE TUER IN DER WAND. Und so wie die Kinder die Tür zur Welt sind, so ging ich nun durch das Wort Kinder  in die Welt hinter dem Zaun.

 

 

Der an Vanilleschoten erinnernde Duft von Feigenblüten war zu riechen und auf den Lippen zu schmecken, wohlige Wärme und strahlendster Sonnenschein umhüllten mich und trugen mich an einen fernen Strand. Feiner Sand unter meinen bloßen Füßen, sanft auslaufende Wellen des türkisfarbenen Meeres umspülten spielerisch meine Zehen. Palmen ließen ihren filigranen Schatten über den Boden fliegen.

Ich war nicht allein in diesem Paradies, eine junge Frau saß auf einem Felsen, die Füße zur Abkühlung in die Meeresbrandung haltend. Ihre erdfarbene leinene Kleidung stammte aus längst vergangenen Tagen. Die Melodie des  Liedes, welches sie leise sang, klang nach einer fremden Kultur und war mir doch so vertraut. Ich zögerte, sollte ich mich der Unbekannten nähern? Ich war allein mit ihr, sie musste schon lange auf dem Felsen sitzen, keine Fußspur führte zu ihr hin. Suchend sah ich mich nach Kassiopeia um. Überrascht stellte ich fest, dass auch ich keine Fußspuren im Sand hinterließ, auch wenn ich deutlich spürte, wie der Sand sich meinen Fußsohlen anpasste. Dann sah ich Kassiopeia. Kassiopeia ruhte neben der jungen Frau, sie schwiegen miteinander und waren sich einig über das ungesagt Gesagte.

KOMM NUR ZU UNS forderte mich Kassiopeia freundlich auf. ICH MÖCHTE DIR FLORIA VORSTELLEN. Zögernd ging ich auf den Felsen zu, in welcher Sprache sollte ich die junge Frau ansprechen? Konnte sie mich überhaupt verstehen? Kassiopeia kannte offensichtlich die junge Frau. Hatte mich Kassiopeia absichtlich hierher geführt? Aus welcher Zeit stammte die junge Frau, war sie auch von Kassiopeia hierher geführt worden? Wie nur sollte ich, wie hatte sie doch gerade Kassiopeia genannt: Floria ansprechen? Fragen über Fragen schossen mir durch meinen Kopf, wieder sah ich nach Kassiopeia.

NUR MUT! wurde ich aufgefordert. Und kaum, dass ich mich zu einem kleinen Schritt nach vorne entschloss, saß ich auch schon neben Floria auf dem Felsen. Kassiopeia wärmte sich in der Sonne. Mein Blick auf das Meer war nun ungehindert, in einiger Entfernung vom Felsen wuchs, als bräuchte sie keine Erde für ihre Wurzeln, aus dem Meer eine große alte Platane. Ihr Stamm war bereits geteilt und in der so entstandenen Höhle saß schwebend auf einem hohen Lehnstuhl Meister Hora. 

„Endlich bist du gekommen“ begrüßte mich Meister Hora, obwohl er etliche Meter von mir entfernt saß, verstand ich ihn so gut, als würde er unmittelbar neben mir sitzen.

„Du fragst dich“ vernahm ich die sanfte Stimme von Floria, „wo du bist und ob ich dich verstehe. Ja ich verstehe dich, so wie du auch mich verstehst. Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass wir uns verstehen. Alle Menschen und Tiere verstehen sich, Nebukadnezar, oder wie die Menschen, die gleichzeitig mit ihm lebten sagten: Nabu-kudurri-usur, hat noch nicht den Bau des größten Bauwerkes[2] befohlen.“ Erläuterte mir Floria und noch bevor ich meine Frage stellen konnte, fuhr sie fort: „Ich bin von Karthago, doch habe ich Nabu-kudurri-usur  bisher noch nicht kennen gelernt, nicht jeder kommt bis zu dieser Bucht. Nabu-kudurri-usur wurde über neunhundert Jahre vor mir geboren, du hingegen bist noch sehr jung. Es verwundert dich, dass dich Kassiopeia zu mir in die Bucht brachte, doch ich wünschte es mir gleichzeitig mit dir, wollte ich mich doch gerne mit dir über meinen Brief[3] an Aurel unterhalten.“

Irritiert sah ich zum Himmel, Störche zogen in Richtung Süden vorbei. Es war spät für die Störche, sie mussten doch eigentlich schon längst in ihrem Winterquartier in Afrika sein. Doch wenn Floria davon sprach, dass sie aus Karthago stammte, war ich dann jetzt in Afrika? Und in welchem Jahr, oder besser gesagt, in welchem Jahrhundert befand ich mich? Wieder zogen Störche in Richtung Süden. Verwundert sah ich ihnen nach, es war doch der 13. Dezember 1998.

„Die Störche ziehen hier immer vorbei“ wieder antwortete mir Floria auf meine ungestellte Frage. „Wenn es an der Zeit ist, ziehen sie in den Süden, zu gegebener Zeit ziehen sie dann wieder in den Norden. So kann ich ständig die Vögel über mich hinwegziehen sehen.“

Meister Hora schob seine Allsicht-Brille[4] höher, er sah, dass mich die Antwort von Floria nicht zufrieden stellte. „Du bist ungeduldig in deinen Fragen, mein Kind.“ Leiser Tadel war aus der tiefen Stimme zu hören. „Du hast noch alle Zeit um dir selbst die Fragen zu beantworten, die du nun ungeduldig von uns beantwortet haben willst. Fragen treiben dich immer wieder zu neuen Antworten, Erkenntnissen und wieder neuen Fragen. Du hast Zeit, denke an die Schritte von Kassiopeia, wer einen kleinen Schritt rückwärts geht, kann oft dabei einen großen Schritt vorwärts kommen.“

„Wir kennen hier keine Stunden, keine Minuten“ erklärte mir Floria, „wir leben außerhalb des Julianischen Kalenders im 13. Monat.“

„Also sind wir in der Zeitrechnung vor dem Jahre 46 v.Chr.?“ Wollte ich mit meinem Wissen prahlen.

„Nein,“ korrigierte mich Floria, „wir sind außerhalb des Julianischen Kalenders, nicht vor Einführung des Julianischen Kalenders.“  Störche zogen über  unsere Köpfe Richtung Norden, verwundert sah ich ihnen nach.

„Julius Cäsar hat bei Einführung des Julianischen Kalenders das Mondjahr und das Sonnenjahr zusammengeführt. Dabei hat er die Zeit des 13. Monats aus der Differenz zwischen dem Mondjahr und dem Sonnenjahr rechnerisch genommen. Da das Mondjahr um 67 Tage vom Sonnenjahr abwich, schaltete Julius Cäsar einen Doppelmonat von 67 Tagen zwischen November und Dezember. Damals wurde für einen kurzen Moment der 13. Monat erkannt, dann verloren ihn die Menschen wieder aus dem Sinn. Und wie auch vor Cäsars Eingriff in die Zeit, wird alle Zeit, die verloren gegangene und die nicht erkannte, im 13. Monat gesammelt - und fehlende Zeit wird zu vorhandener Zeit. So wird ständig der 13. Monat länger. In dieser Zeit leben wir.“ erläuterte Meister Hora. „Es ist die Zeit die niemals endet und es ist die Zeit, in der alles von alleine geschieht, ohne dass wir es beeinflussen können.“

 „Ihr sagt,  dass ihr im 13. Monat lebt, die Zeit nicht beeinflussen könnt, wie kann ich dann mit euch sprechen? Wurde durch die Einführung des Gregorianischen Kalenders nicht der Fehler des Julianischen Kalenders korrigiert?“ Wollte ich gerne wissen.

„Nein, es wurde nur ein Fehler korrigiert, doch verblieb immer noch genügend Differenz, und der 13. Monat wurde weiter verschwiegen - und wird doch ständig länger.“ Murmelte Meister Hora.

Störche zogen über unseren Köpfen vorbei und ich begriff, dass es völlig unwichtig war, ob die Vögel gegen Norden oder gegen Süden zogen. Verlorene Zeit, missachtete Zeit, vergessene Zeit, war um mich her, ich konnte sie fühlen, sie war selbstverständlich vorhanden. Ein kalter Hauch eines ungedachten Gedanken streifte mich, doch kurze Zeit später wurde ich wieder von einem warmen Windhauch, unausgesprochener und doch gefühlter Liebe, erwärmt.

 „Und jeder, der im 13. Monat lebt, ist unsterblich?“ fragte ich bang.

„Sterblich ist nur die Hülle, unsere Seele ist unsterblich, sie kann nur in Vergessenheit geraten.“ Vernahm ich die sanfte Stimme Florias. „Sieh dir die Spuren im Sand an, sie sind so vergänglich, wie unsere Körper, sie sind vergangen, bevor du auch nur richtig hingesehen hast. Nur ein leichter Windhauch und die Spuren werden hinweg geblasen, als seien sie nie da gewesen. Doch sieh unsere Seelen, unsere Gefühle und Empfindungen an! Kein Sturm kann so heftig sein, dass die Erinnerung, auch wenn wir sie uns nicht eingestehen wollen,  daran verblassen kann.“

„Und was sehe ich, wenn ich nun dich, Kassiopeia oder Meister Hora ansehe? Ich bin sicher, dass du Floria hier neben mir sitzt, gekleidet in leinenes Tuch, an Tunika und Palla der Römerinnen erinnernd. Und doch sagst du, dass die Hülle sterblich ist.“

„Zuweilen muss die Hülle ausgeliehen werden, damit das Auge wahrnehmen kann.“ erklärte Floria. „Mich kannst du so sehen, weil du, nachdem du meinen Brief an Aurel gelesen hast, die Vorstellung hattest, dass ich so aussehen würde, wie du mich jetzt siehst. Und Meister Hora siehst du auch nur so, wir dir deine Vorstellung sagt, dass er aussehen müsste.“

„Dann ist alles, was ich sehe nur Einbildung, auch wenn ich es, wie dich, anfassen kann?“

„Einbildung, Phantasie“ ein Lächeln legte sich auf Florias Gesicht, „wenn du den Menschen siehst, den du liebst, dann siehst du ihn auch so, wie du ihn sehen willst, andere sehen ihn anders. Es ist dein geistiges Auge, welches deine Augen den Körper wahrnehmen lässt.“

„Aber was sieht mein geistiges Auge? Ich kann doch über mein geistiges Auge nicht meinen Augen befehlen, welche Gegenstände sie wie sehen sollen, nur was mein Auge körperlich sieht, kann doch mein geistiges Auge erkennen, also verhält es sich doch genau anders herum!“ widersprach ich Floria. „Nie könnte ich, wäre das Gesehene von meinem geistigen Auge abhängig, das Gleiche sehen wie mein gegenüber, nie könnte ich die gleichen Worte lesen, wie ein anderer, der das Buch in Händen hält.“

„Du siehst und liest nie das Gleiche wie ein anderer,“ warf Floria ein „jedenfalls nicht ganz genau das Gleiche. Sicher seht ihr jeweils die gleichen Buchstaben, doch der Gehalt des Gelesenen ist für jeden von unterschiedlicher Bedeutung und dadurch lest ihr unterschiedliche Texte, auch wenn es scheinbar der gleiche Text ist.“

„Du meinst, als ich deinen Brief an Aurel Augustin, Bischof von Hippo gelesen habe, habe ich einen anderen Text gelesen, als der Kirchenvater?“ fragte ich nun Floria.

„Der Bischof hat einen anderen Text gelesen, er las den Text einer einsamen Frau, die sich nicht zum Christentum bekennen wollte, er hat Eva nicht hören wollen.“ Nachdenklich schwieg Floria. „Er hat meine Existenz nicht mehr wahrnehmen wollen, überließ Eva alle Schuld an der Vertreibung aus dem Paradies und musste diese Sünde durch den Dienst für seinen Gott sühnen. Dabei hat Gott doch Adam, und aus einer Rippe Adams, Eva erschaffen, wie kann der Bischof dann nur davon ausgehen,  dass Eva zu lieben Sünde sein kann.“

„Aber auch in der Zeit, in der ich lebe“ setze ich Florias Gedanken fort, „gilt noch für manche Priester das Zölibat. Diesen Priestern wird das höchste Wissen des Menschen vorenthalten, das Wissen um die Liebe. Diese Kirche - und nicht nur die Kirche - verkennt die Macht der Liebe. Eine Macht, die das Leben des Menschen bestimmt. Ohne die Kenntnis dieser Macht, ihre verborgenen Pfade, ihre zuweilen giftigen Wurzeln, ihre süßen Früchte, ihr Schatten spendendes Laub, kann der Mensch nicht als Mensch erkannt werden.“

„Ja, ich habe deine Gedanken gespürt, als du meinen Brief gelesen hast, er musste gefunden werden, damit er gelesen wird, auch wenn er nun wieder verschwunden ist; der Bischof von Hippo will meine Existenz immer noch nicht eingestehen.“ Wehmut lag in Florias Stimme.

 

 

 

Kassiopeia stieß mich an, ich las auf ihrem Rücken: DU MUSST JETZT GEHEN.

Ich wollte noch bleiben, wollte mir noch ausführlicher von Floria ihr Wissen der Geheimnisse des Lebens, diesseits und jenseits des 13. Monats, verraten lassen. Ich wollte so gerne manchen im 13. Monat gesammelten Gedanken berühren.

Floria hob die Hand „Etwas, was ich schon Aurel schrieb, möchte ich dir mit auf den Weg geben: Geh aus dem Haus! Geh hinaus und lege dich unter einen Feigenbaum. Öffne deine Sinne. –  Hole Atem, lausch dem Gesang der Vögel, sieh zum Himmel und nimm alle Düfte in dich auf. Das ist die Welt und sie ist hier und jetzt, dort wo die Menschen zu Hause sind. Die Welt ist so groß, und wir wissen immer noch viel zu wenig über sie. Vielleicht gibt es einen liebevollen Gott, der die Welt für uns, und uns für die Welt, erschaffen hat.“

Ein lauer Wind ließ leise die langen Blätter der Palmen rascheln, ihre filigranen Schatten spielten haschen auf dem Sand, der Duft des blühenden Feigenbaumes lag auf meinen Lippen. Keine Spuren im Sand, denn nichts ist so vergänglich wie Spuren im Sand, während die Erinnerung bleibt.

 

 

 

 
 

 

 

 

Ich saß am Bett meines Sohnes, das warme Licht einer Weihnachtslaterne schimmerte vom Fenster her. Auf dem Schoß hielt ich das geschlossene Buch von Momo. Schneeflocken flogen tanzend gegen die schwarzen Scheiben des Fensters. Es war Zeit ins Bett zu gehen.

 

 

   

 

 

 

 

 

 

Die vierte Dimension

 

 

Floria[5] ging am Strand entlang. Treibholz wurde angespült: Gedanken, Gefühle. Sie konnte alles genau erkennen.

Floria sprach mit mir, besser gesagt zu mir. Floria berichtete von ihrem langen Leben, Meister Hora nickte bestätigend. Träge rauschte das Meer der Zeit. Mein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. Ich erkannte die Stadt, die Straße, das Haus. Ich erkannte mich. Leise, wie ein Raunen, vernahm ich Florias Worte.

Das Leben ist so kurz, darum dürfen wir andere Menschen und uns selbst nicht schlecht oder als Werkzeug behandeln, um eine Existenz zu erreichen, von der wir nichts wissen. Du mußt leben, um das Leben zu erkennen. Du mußt den Duft der Liebe atmen, um den Atem für die richtigen Worte zu finden. Sieh nur den Menschen zu: sie gehen in die Falle jeden Fehlers, graben Gruben und sehen mit Bestürzung, wie das, was ihnen am Liebsten war, darin verschollen geht.

Ich sah mir zu, bei der Arbeit. Ich sah, wie der Ärger des Alltages mich zu verschlingen drohte, alles um mich herum war grau. Menschen mit ernstem Gesicht kamen und gingen, es war alles so wichtig, so interessant. Ich hörte mich sprechen. Die Worte kamen mir kalt und ohne jede Bedeutung vor, doch meine Gegenüber hingen an meinen Lippen, lauschten gebannt meinen Ausführungen. Termine über Termine trieben mich immer weiter, ich fand keine Ruhe, entfernte mich immer mehr aus meinem Blick. Kalter Angstschweiß ließ mich erwachen.

 Floria saß an meinem Bett, reichte mir ihre Hand. Du brauchst keine Angst zu haben, dein Leben ist nicht vorbei. Du mußt nur erkennen, was für dich wichtig ist.

Floria stand wieder am Strand, das Treibholz der Gedanken und Gefühle zu ihren Füßen. Und auch ich konnte die Gedanken und Gefühle erkennen. Ich hob die schönsten auf, die sanfte Melodie des Gedanken hüllte meine Seele in einen schützenden Mantel, die Zärtlichkeit der Gefühle ließ mein Herz ruhiger werden.

Ein roter Faden lag auf dem Boden, ich hob ihn auf. Ja, nimm ihn nur auf, es ist der Faden, den dir Ariadne[6] gibt. Er wird dir den Weg zu dir zeigen. Gehe deinen Weg und finde dich im Leben. Ich nahm den Faden, doch ich zog nicht daran, damit sein Ende zu mir kam, nein ich nahm den Faden vorsichtig zwischen meine Finger, und der Faden des Lebens fühlte sich gut an. Samtweich, warm und anschmiegsam, wie eine schnurrende Katze, kühl und glatt, wie ein edler Stoff aus Seide. Ich schloß meine Augen und ließ mich von meinen Gefühlen leiten – Ariadnes Faden wies mir den Weg aus dem Labyrinth zurück ins Leben. Das Grau meines Alltages wich den schillernden Farben des Lebens. Immer mehr Blumen sah ich am Wegrand stehen, ihr sanfter Duft weckte meine Sinne aufs Neue. Ich spürte den Wind auf meinen Lippen und ich wußte, ich lebe. Ich sah die Menschen um mich herum und ich erkannte dankbar, daß jeder für sich sein eigens Leben gestalten konnte, sich keiner seiner Gedanken und Gefühle wehren mußte.

Floria stand mit mir am Strand, ich spürte den warmen weichen Sand an meiner Fußsohle. Sand der Spuren verschwinden läßt, trügerisch Festigkeit vorgaukelnd. Sand, auf den man nicht bauen kann und den wir doch zum Leben so dringend benötigen. Ich bückte mich, ließ den warmen Sand durch meine Hände rieseln, die feinen Körner massierten meine Handfläche. Und immer behielt ich Ariadnes Faden in den Händen. Das Treibholz war weniger geworden.

Ich wollte von Floria  wissen, wo der Faden endete, doch Floria schüttelte den Kopf. Du bist kein kleines Kind mehr, frage nicht immer nach dem Warum und Wozu, diese Fragen machen dich nur krank. Du bist groß, nimmst für dich in Anspruch, erwachsen zu sein. Lebe das Leben und verstecke dich nicht hinter Argumenten, die du dir selbst gleich Mauern errichtest. Sage ja zum Leben, liebe das Leben und so wird das Leben dich ebenso lieben. Sage ja zu deinen Gefühlen und Wünschen, denn das Leben ist kurz, es ist zu kostbar, um es zu verschenken. Lebe das Leben jetzt und heute, warte nicht auf später, denn später ist nur allzu oft nie.

Höre das Lied der Vögel, hör dem Flüstern des Windes zu, laß die Sonne dich erwärmen. Erkenne die Hand, die sich dir entgegen streckt, nimm sie an – folge dem Faden. Und die kahlen Bäume werden wieder Blätter tragen.

Und wieder sah ich mich, ich wußte, es würde mir gelingen. Ich werde dem Faden zurück aus dem Labyrinth folgen, ohne ihn aus seiner losen Verankerung zu lösen. Die Vögel sangen ihr fröhliches Lied und eine rote Orchidee leuchtete wie aus der Finsternis.

Ich kehrte zurück in mein eigenes Zeitlabyrinth, doch mit einem neuen Lebensgefühl.

 

 

                                              

 

 

 

Von der Zeit, die uns bleibt

 

 

Wieviel Zeit bleibt uns – wieviel Zeit bleibt mir? Wann ist es, daß man sich diese Frage zum ersten Mal stellt? Ich möchte Floria fragen.

Als ich Floria von einigen Jahren, es war wohl im Herbst des Jahres 1998, kennen lernte, da fand ich in ihr eine verständige Frau, die vor mir offen war, wie ein aufgeschlagenes Buch mit unendlich vielen ungelesenen Seiten; die mir Antworten auf ungestellte Fragen gab, mit der ich mich, im stummen Gespräch, unendlich unterhalten konnte. Ich stellte Fragen, sie zeigte mir Antworten, sie stellte mich vor Fragen, deren Antworten ich nur finden konnte, folgte ich den verschlungensten Pfaden.

Floria ist mir eine treue Begleiterin geworden, nimmt es nicht übel, vergesse ich sie für Monate. Doch dann ist sie plötzlich wieder da, sitzt auf dem Felsen, dem keine Brandung etwas anhaben kann, läuft über den Strand, ohne Spuren zu hinterlassen – und doch ist ihre Gegenwart spürbar, läßt mich nicht mehr los. Floria ist geduldig mit mir.

Ich frage Floria, wieviel Zeit mir noch bleibt. Doch Floria schweigt, mein Blick wird frei und ich sehe in mich hinein. Es ist lang her, daß ich zum ersten Mal die Frage hatte: wieviel Zeit habe ich noch? Es ist bald 34 Jahr her – ich war damals dreizehn, hatte gerade Geburtstag gefeiert. Ich habe meine Frage von damals nicht vergessen. Nur damals habe ich die Frage für mich behalten, hatte niemanden, mit dem ich hätte darüber sprechen können. Aber meine Einstellung zur Antwort auf diese Frage hat sich geändert.

Mit dreizehn Jahren gab es noch keine unerledigten Dinge, es gab keine Verantwortung für fremdes und doch anvertrautes Leben, es gab nichts, was hielt – außer der Neugier auf die Zukunft. Doch diese war so ungewiß, aber vielleicht würde sich ja doch jemand finden, der mich brauchen würde. Leben wir nur, weil wir gebraucht werden? Leben wir, weil wir lieben?

Wie lang ist also die Zeit, die uns bleibt? Ich mache es mir leicht: ein Leben lang. Aber wie lang ist das – wird mir die Zeit reichen, all das zu tun, was ich für notwendig erachte? Ich habe nie vermocht, planlos in den Tag zu leben – daran war eventuell schuld, daß ich mir bereits so früh darüber Gedanken machte, wie lang wohl das Leben dauert.

Wird man langsam (oder schnell) älter, werden mit der Zeit immer mehr Dinge bewußt, die man noch gerne zu Ende bringen möchte. Es ist wie ein großer Berg, den es noch zu bewältigen gilt, jedoch blickt man zurück, so liegt vor dem Auge nur eine sanfte Hügellandschaft, ein verschwindendes Nichts, das bisher bewältigt wurde.

Floria streckt mir die Hand entgegen, fordert mich auf, mit mir einen winzigen Augenblick auf mein bisheriges Leben zurückzublicken: Sieh dich noch einmal um, sieh dir die Landschaft an, durch die du bereits geschritten bist. Es sind nicht nur sanfte Hügel, denn wie hättest du durch tiefe Täler schreiten können, steile Gipfel erklimmen können, wenn es doch nur Hügel sind? Erinnerst du dich nicht mehr, wie mühsam mancher Aufstieg war?

Doch, ich erinnere mich und gerade das ist es, was mich so verwundert, nur auf eine sanfte Hügellandschaft zurückblicken zu können. Wo sind die dunklen Schluchten, durch die ich wandern mußte, wo ist der steile Abhang, der sich vor mir aufgetan hatte? Ich kann es nicht mehr erkennen, alles sieht so geruhsam aus. Aber du warst doch schon so oft in den Alpen, erinnere dich an die Bergwanderungen. Noch kurz vor dem Gipfel dreht man sich um, blickt zurück und kann doch nicht den Stein erkennen, über den man gerade noch gestolpert ist. Die Entfernung ist mit dem Auge kaum meßbar, der Puls wird wieder langsamer, man sieht die wunderschöne Landschaft, durch die man gerade gewandert ist – die Anstrengung ist vergessen. Nicht anders ist es, blickst du auf die Zeit zurück, die du bisher durchmessen hast.

Ich drehe mich wieder dem Gipfel zu, der Weg scheint mir noch unendlich weit, die einzelnen Etappenziele weit von einander entfernt, die Landschaft verlockt zur weiteren Wanderung. Floria reicht mir die Hand und zeigt mir den Weg über einen Graben. Ich spüre, daß sich Floria nach ihrem Felsen sehnt, so wie mich die Sehnsucht zu meiner Zukunft treibt.

Du willst wissen, wieviel Zeit dir noch bleibt? Sieh zum Gipfel, er ist noch in weiter Ferne, erst wenn du den Gipfel erreicht hast, wird sich die Zeit vollendet haben. Also habe Geduld, stürme dem Gipfel nicht entgegen, doch versäume dich auch nicht auf dem Weg, damit der Gipfel nicht ohne dein Zutun näher rückt. Jedem ist seine Zeit gegeben, man muß nur sorgsam mit ihr umgehen. Das Schicksal ist vorbestimmt, der Zufall spielt manchen Streich.

Ich sehe nach vorn, eine Bergkette lädt zur Erstürmung ein, ich muß mich für einen Gipfel entscheiden. Nicht für den Höchsten, ich will nicht den Ruhm, den höchsten Berg bezwungen zu haben. Nicht für den Steilsten, ich eigne mich nicht zum Steilwandkletterer. Nicht den sanften Hügel, da bin ich zu schnell am Ziel. Ich suche mir den Bergkipfel aus, der in meinen Augen der schönste ist, dessen Geist mich ruft. Doch welchen Streich wird der Zufall spielen? Dein Schicksal ist es, und Floria zeigt genau auf den Gipfel, den ich mir ausgesucht habe, diesen Berg zu erwandern doch hüte dich vor den Streichen des Zufalls, wenn er plötzlich einen Felsspalt zum Abgrund werden läßt. Du mußt die Augen offen haben und eins mit der Natur, deinem Leben, sein, dann spürst du rechtzeitig, wenn der Felsspalt sich öffnet. Die Natur liebt das Leben, sie zerstört es nur, wenn es nicht zu vermeiden geht. Geh durch diese Landschaft, denn sie ist dein Leben.

Und wieder sehe ich zurück auf die Landschaft, die ich bereits durchschritten habe. Junge, wunderschöne Pflanzen wachsen am Rain, Pflanzen, die zu Bäumen werden. Bäume, die zu Menschen werden, die dann ihre eigene Landschaft durchwandern werden. Die Landschaften ähneln sich, doch keine ist wie die andere. Zuweilen kreuzen sich Pfade, nur um sich dann wieder zu verlieren, andere Pfade laufen aufeinander zu, um dann einen sicheren Weg zu bilden.

Dort hinten steht eine Hütte, das wärmende Feuer erwartet mich – dort will ich mich einwenig ausruhen. Floria sitzt wieder auf ihrem Felsen, dem die Brandung nichts anhaben kann, ihr Blick grüßt mich. Floria hat alle Zeit. Ich sehe zum Gipfel, dort wird meine Zeit erfüllt sein, das Tal, aus dem ich komme, ist in weiter Ferne.

 

 

 

 

 

 

 

 

Von der Hoffnung

 

 

„Floria ich rufe dich! Floria“

Du fragst nach der Hoffnung?

„Du weißt wieder von meiner Frage, bevor ich sie ausgesprochen habe. Zweifel sind es, die mich dich rufen lassen, denn nur im Gespräch mit dir, können Fragen zu Antworten werden. So frage ich dich heute, kann man Hoffnung verlieren?“ Floria reichte mir die Hand und zog mich zu sich an den Strand, endlos war mein Blick über das Meer, das in vertrauter Wölbung am Horizont im Himmel unterging.

Ihre Hand wies zum Horizont: Hoffnung ist ein kostbares Gut, wir Menschen werden sie nie verlieren. Hoffnung wurde uns in die Wiege gelegt. Sieh hin zum Horizont, das Meer verschmilzt mit dem Himmel, die Unendlichkeit senkt sich auf die Erde herab und doch wird aus eben dieser Unendlichkeit ein Schiff am Horizont erscheinen. Diese Hoffnung ist so unendlich wie das Meer am Horizont.

Ich saß mit Floria auf dem Felsen, schweigend sahen wir in die Unendlichkeit des Horizontes: Träume, Wünsche und Hoffnungen zogen gleich Segelschiffen vorbei. Und keines der Schiffe schwankte, weder das Schiff aus Zeitungspapier des standhaften Zinnsoldaten, noch die stolzesten Siebenmaster der größten Wünsche. Mein Blick blieb an einem Schiff hängen. Es war nicht das Stolzeste, doch mir vertraut.

„Wenn nun aber jemand, den man liebt, alle Hoffnung verloren hat, wie kann ihm dann geholfen werden?“ Wollte ich wissen.

Das Schiff zog stolz über das Meer dahin, Wellen schlugen übers Deck, doch das Schiff fuhr weiter.

Alle Hoffnung endet erst in der Ewigkeit, denn dann haben wir die ewige Gegenwart, die frei aller Notwendigkeit auf Hoffnung ist. Doch in der Gegenwart ist die Zeit noch nicht reif alle Hoffnung in Wissen zu tauschen, denn hier ist man sich noch nicht der Zukunft gewiß.

„Du meinst also, wenn ich meine Hoffnung verloren habe, bin ich in der Ewigkeit? Das sehe ich nicht so, denn wenn ich meine Hoffnung verloren habe, dann bin ich verloren, dann glaube ich nicht mehr an mein Leben. Was aber ist Hoffnung?“

Das Schiff kam langsam näher, es war wohl ein umsichtiger Kapitän, denn als der Wind zu heftig wurde, reffte er das Großsegel, setzte dafür Sturmsegel.

Hoffnung birgt vieles in sich, die Erwartung an Morgen, die Zuversicht der Besserung, der Wunsch auf Erfüllung unserer innersten Träume. Hoffung ist der zuversichtliche Glaube an die Wendung der Dinge, Hoffnung ist die Antriebskraft, die uns von einem Punkt zum nächsten Ziel bringt.

Ich lauschte den Worten Florias, das wunderschöne Schiff, das ich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, schlingerte, als sei es in einen Sturm geraten, vor meinen entsetzen Augen riß ein Segel. Willenlos wurde es vom Sturm gepeitscht – warum wurde es nicht eingeholt um es zubergen, es war doch nur ein Riß, der konnte geflickt werden!

Es braucht Mut, das Segel einzuholen! Vernahm ich leise Florias Stimme.

Und ich bete, daß der Kapitän den Mut haben wird, denn es ist seine Aufgabe – wie konnte er so kurz vor dem Ziel die Hoffnung fahren lassen?

„Warum geht er nicht zum Mast hin, sieh nur, der Sturm läßt nach! Auch wenn der Wind noch kräftig weht, das Segel ist wichtig, es war so ein schönes Schiff, warum sollte es den Wellen und dem Wind geopfert werden? Hat er seine Hoffnung verloren? Sind wir nicht in der Gegenwart, wo wir die Hoffnung haben?“

Ja, du hast recht bestätigte mir Floria. Wir sind momentan in der Gegenwart, die Ewigkeit wird noch lang auf sich warten lassen. Keiner hat das Recht die Ewigkeit der Gegenwart vorzuziehen, seine Hoffnung zu begraben. Solang der betreffende hier und jetzt in der Gegenwart ist, darf er nicht die Hoffnung verlieren, denn sonst hat er die Hoffnung auf sein Leben verloren!

„Aber wenn nun jemand, den ich liebe, alle Hoffnung verloren hat, wie kann ich ihm helfen, die Hoffnung wieder zufinden?“

Nie wird er die Hoffnung gänzlich verloren haben, denn sonst wäre er nicht hier. Aber er benötigt Hilfe und darum ist es wichtig, daß du deine Hoffnung, Wünsche und Träume nicht verlierst. Und in dem du deine Hoffnung aufrecht erhältst, gibst du ihm die Möglichkeit seine Hoffnung wieder zu finden.

Die Hoffnung auf Nahrung führt das Reh auf die Lichtung. Die Hoffnung auf Wiederkehr läßt den in der Wüste Verirrten zurück zur Oase finden. Die Hoffnung auf Freiheit läßt den Kriegsgefangenen überleben. Die Hoffnung auf Frieden läßt die Kinder lachen: Hoffnung läßt die Menschen leben.

„Aber... “

Wir alle haben ein Recht auf Hoffnung, wie könnten wir sonst genesen? Hoffnung ist, neben der Liebe, eines unserer Lebenselixiere!

„Also werde ich ihm durch meine Liebe zu der Stärke verhelfen, wieder Kraft für neue Hoffnung zu sammeln.“

Ich sah immer noch zu dem Schiff, meine Liebe sollte dem Kapitän dabei helfen, den Mut zu finden, das Segel einzuholen, bevor es größeren Schaden nahm. Er würde zum Hafen gelangen, dort würde ich ihm helfen, das Segel zu flicken, auch wenn das Schiff nie mehr so mächtig gegen den Wind fahren können würde, er wäre ja im sicheren Hafen.

 

 

 

 

 

 April

 

 

Der Fluss ist wieder zurück in seinem Bett, nur hier und da schwappt er noch über. Der in den Ritzen des Pflasters abgelagerte Schlamm trocknet langsam im Sonnenschein aus, der Duft des Wassers nach Fisch, Verwesung und Tod schlägt verdunstend entgegen. Langsam gehen wir am Flussufer entlang, spüren die warmen Strahlen der Aprilsonne im Rücken.

Der Fluss strömt dahin, bald genauso schnell die Gedanken. Nicht greifbar, diffus wie im Nebel, die Frage nach dem Warum, die Frage nach dem Wozu. Floria kennt meine Zweifel, doch sie ist stumm, so stumm wie meine Gedanken. Stumme Gedanken, ein Widerstreit der Gefühle, denn die Hoffnungslosigkeit findet keine Antwort auf die Frage warum und wozu, laut schweigend möchte ich brüllen: weshalb ich?

Und Floria schweigt. Sie, die mich immer so gut versteht, sie die mir antwortet bevor ich frage, schweigt. Entzieht sich einer Antwort, entzieht mir ihre Gegenwart. Floria, meine gute Freundin, weiß mir keinen Rat. Die Schritte fallen schwer, die Wärme der Sonne erreicht nur den Körper, die Seele friert.

Stummschweigend gehen wir am Ufer entlang, erklimmen die Böschung, der Fluss entfernt sich von uns – meine Gedanken nicht: Warum, wozu? Mein Leben liegt nicht hinter mir, und doch liegt es auch nicht vor mir. Steinig ist der Weg, voll Schlingen, Stricken und Fallen. Floria sieht mich an, wissend sehen ihre Augen durch mich hindurch, als könnten ihre Augen durch mich hindurch in mir meine Zukunft in der Vergangenheit sehen.

Ich denke plötzlich wieder an Pano, den Griechen. Wir hatten uns zufällig getroffen, waren am Abend gemeinsam Essen gegangen. Es war schon Mitternacht vorbei, als er mich zu einem griechischen Café führte. Dampfender Kaffee in kleinen Tassen stand vor uns, er nahm meine Hand, zeichnete mit seinem Zeigefinger meine Lebenslinie nach. Er forderte mich auf, den griechischen Kaffee ohne Zucker in einem Zug auszutrinken, bis nur noch der Kaffeesatz in der Tasse war. Dann sollte ich die Tasse auf die Untertasse stülpen, er wollte mir aus dem Kaffeesatz lesen. Doch dann schwieg er. Das ist bald zehn Jahre her – ich habe ihn danach nie mehr gesehen.

Jetzt ist Floria neben mir – und auch Floria schweigt. Doch die Fragen brennen in mir, lassen mich nachts nicht schlafen, während mein Herz Purzelbäume schlägt. Floria, meine beständige Freundin begleitet mich schweigend auf meinem Weg. Die Vögel fliegen  kreischend über uns, streiten sich um die Nistplätze des Vorjahres. Mein Blick versinkt in der Strömung, Sonnenstrahlen Tränen trocknen. Und mein Herz ruft: Ich will! Es stampft dabei auf, ich spüre die Erschütterung.

 

[1] Momo, ein Märchen-Roman von Michael Ende

[2] Im ersten Buch Moses wird der Turmbau zu Babylon unter Nabu-kudurri-usur  im 6. Jahrhundert v.Chr. erzählt. Dabei wurde jedoch die Zeit des Turmbaus zu Babel großzügig in die Zeit kurz nach der Sintflut verlagert. Bei den vielen mündlichen Überlieferungen und zuletzt bei der Übersetzung der Bibel durch Luther wurde der Name als Nebukadnezar übersetzt  und ist so auch in den Sprachgebrauch eingegangen.

[3] „Floria Aemilia grüßt Aurel Augustin, Bischof von Hippo“. Das Leben ist kurz, Jostein Gaarder

[4] Meister Hora kann durch seine Allsicht-Brille in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen, doch die Macht, die Zeiten zu ändern, Geschehnisse zu beeinflussen, besitzt er nicht.

[5] Floria Aemilia wurde 354 n.Chr. in Karthago geboren. Mit 19 Jahren lernte sie Aurelius Augustinus kennen und lebte 15 Jahre mit ihm zusammen. Aurel verstieß Floria auf drängen seiner Mutter, da er ein junges Mädchen aus besseren Kreisen heiraten sollte. Zu dieser Eheschließung kam es nie. Augustinus wurde zum Bischof von Hippo Regius ernannt, dies blieb er auch bis zu seinem Tode im Jahre 430. Sehr viel später wurde der Mann, der sich so sehr allem irdischen Gefühl und jeder Sinnenfreude verschloß, zum Heiligen ernannt.

[6] Ariadne gab Theseus ein Garnknäuel mit, als er im Labyrinth von Knossos, auf Kreta, das Ungeheuer Minotaurus töten wollte, dem die Stadt Athen alle sieben Jahre sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge opfern mußte. Mithilfe dieses Fadens fand Theseus danach wieder den Weg aus dem Labyrinth.

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Copyright Elisabeth Zarow